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Günther Holtmeyer Günther Holtmeyer im Unterrichtsraum in der DAA Duisburg, Kasinostraße

Günther Holtmeyer (86) leistet bei der DAA einen „Beitrag zum Frieden“

30.05.2024

Physiker, Vorstand, Lehrer im Ruhestand

Günther Holtmeyer wurde 1937 in das totalitäre System in Deutschland hineingeboren. Der 86-Jährige machte dank seiner Erziehung aber frei von Ressentiments seinen Weg. Holtmeyer wurde Doktor der Physik, Lehrer, Geschäftsführer, Aufsichtsratsmitglied, Vater von vier Kindern und im Ruhestand Sprachlehrer für die DAA. Dorthin lotste ihn die Sozialpädagogin Derman Kezer. Sie traf Holtmeyer in der Begegnungsstätte der Moschee in Duisburg-Marxloh, wo er dank seiner profunden Koran-Kenntnisse Führungen machte.

Angetrieben haben Günther Holtmeyer stets die Begegnungen mit Menschen aller Herkünfte, Konfessionen oder Orientierungen. Im Interview erzählt Günther Holtmeyer über sein Verständnis von Integration, Bildung, Deutsch-Unterricht für die DAA, Leidenschaften und eine Radtour durch China.

Frage: Günter Holtmeyer, Sie sind im 87 Lebensjahr und seit über 20 Jahren im Ruhestand. Was treibt Sie noch zur Arbeit? Andere Menschen in Ihrem Alter pflegen ihre Hobbies.

Günther Holtmeyer: Ich bin gerne unter Menschen. Meine Ehefrau ist 2016 gestorben, meine Freundin lebt in Freiburg oder in Frankreich. Also bin ich die meiste Zeit allein. Und ich wollte etwas Sinnvolles tun.

Frage: Sie haben nach dem Abitur Ihr Diplom in Physik an der TU München gemacht und dort 1967 promoviert. Sie waren Gymnasial-Lehrer, danach über 30 Jahre in der freien Wirtschaft, Leiter Forschung und Technik und Aufsichtsratsmitglied. Im Ruhestand engagieren Sie sich seit Jahren für interkulturelle Vermittlung. Was treibt Sie dazu an?

Günther Holtmeyer: Wenn man es schafft, unterschiedliche Kulturen und Religionen unter einen Hut zu bringen, leistet man einen Beitrag zum Frieden. Als ich in den Ruhestand gegangen bin, habe ich mich an die Stadt Oberhausen gewandt und gefragt, ob ich etwas tun könne. Man antwortete mir, dass man noch keine Erfahrungen mit interkultureller Arbeit habe. Die Stadt wollte vorbereitet sein, falls die Migration durch Krisen zunehmen könnte. In Oberhausen selbst habe ich zusammen mit städtischen Angestellten über Jahre hinweg Integrations-Veranstaltungen durchgeführt. Ich hatte mich bereits mit Islamwissenschaften beschäftigt, unter anderem den Koran mehrfach gelesen. Deshalb bin ich in Duisburg dem Förderverein der Moschee und Begegnungsstätte in Marxloh beigetreten und habe nach der Fertigstellung dieses schönen Bauwerkscangeboten, dort – als Nicht-Muslim! - ehrenamtlich Führungen zu machen. Die Gemeinde stimmte zu, und ich habe diese Arbeit über viele Jahre hinweg mit großer Begeisterung gemacht. Besondere Höhepunkte waren Veranstaltungen zur Begegnung von muslimischen und christlichen Jugendlichen, die meine türkischen Freunde und ich zusammen organisiert haben. Ich bin der Moschee auch heute noch sehr verbunden.

Frage: Was sind für Sie die Schlüssel zu einer gelungenen Integration? Die Aufgaben durch den Flüchtlingsstrom sind enorm, wenn sie überhaupt zu bewältigen sind.

Günther Holtmeyer: Von gelungener Integration kann man sprechen, wenn sich Menschen in einer Gesellschaft normal bewegen und an ihr teilhaben. Da ließen sich viele Beispiele bringen. Aber ich will nur zwei DAA-Schülerinnen erwähnen, die praktisch ohne jede Sprachkenntnis nach Deutschland gekommen sind und es mit extremem Fleiß geschafft haben, eine Ausbildung und ein Studium in einer Zeit zu bewältigen, die bereits hier Geborenen großen Respekt eintragen würde!

Frage: Die Gesellschaft erscheint gespalten, ein Rechtsruck ist unübersehbar. Dazu Übergriffe auf Politiker*innen und Menschen mit Migrationshintergrund. Macht Ihnen das Sorgen?

Günther Holtmeyer: Natürlich bin ich besorgt, weil ich in meiner Generation den Horror des Krieges mitbekommen habe. Zwar wurde meine Heimatstadt Göttingen seinerzeit nicht bombardiert, weil die Alliierten an vielen berühmten Wissenschaftlern der dortigen Universität interessiert waren. Aber der Krieg war trotzdem spürbar und sichtbar, die Bomberverbände Richtung Berlin sind zum Beispiel immer wieder über die Stadt geflogen. Und natürlich habe ich den Hunger und das Elend nach dem Krieg miterlebt.

Frage: Wie haben Sie es geschafft, trotz der Kindheit in einem totalitären System vorurteilsfrei ihren Weg zu gehen?

Günther Holtmeyer: Ich hatte in meiner Familie die ganze Bandbreite politischer Strömungen und Ansichten. Meine Mutter hat das NS-Regime angehimmelt. Sie kam als Vollwaise aus schwierigen Verhältnissen, in denen ihr der Geist der Nazis täglich eingetrichtert wurde. Mein Vater war immer liberal und ist diesem politischen Wahn ausgewichen. Das Verhältnis zu meiner Mutter war deshalb auch nicht einfach. Mein Vater war aber immer Vermittler, er hat das ganz toll gemacht. Ein großartiger Mann. In der Schule hatte ich einen Lehrer, der als frustrierter Offizier aus dem Krieg kam. Er ist später der Friedensbewegung beigetreten. Meine Ehefrau war tiefreligiös, ihre Vettern waren Kommunisten und haben sich in der Bewegung der 68er der radikalen Szene angeschlossen. In diesem Spannungsfeld habe ich immer gelebt, diskutiert und argumentiert.

Frage: Seit 2016 sind Sie für die DAA tätig und unterrichten Deutsch. Wie kam es dazu? Und was gefällt Ihnen an der DAA?

Günther Holtmeyer: Meine liebe DAA-Kollegin Derman Kezer, die mich schon Jahre vorher über die Moschee für die Nachhilfe an Hauptschulen angeworben hatte, wusste, dass mir nach dem Tode meiner Frau die Decke auf den Kopf fallen würde, und fragte mich, ob ich an der DAA Deutsch unterrichten wolle. Ich sagte sofort zu und habe das nie bereut! Seitdem bin ich im Unternehmen und mit großem Vergnügen zwischen Duisburg, Moers, Kamp-Lintfort und Wesel gependelt. Die große Bandbreite der Kurse an der DAA hat mich von Beginn an gereizt. Und dazu kam die ausnahmslos wunderbare Atmosphäre. Weder mit Kolleg*innen noch mit Vorgesetzten habe  ich je ein Problem gehabt.

Günther Holtmeyer will Interesse bei den Menschen wecken.

Frage: Die Arbeit mit den Menschen aus zum Teil völlig anderen Welten ist wegen der Sprachbarriere äußerst komplex. Was sind für Sie Erfolgserlebnisse?

Günther Holtmeyer: Wenn ich den Eindruck gewinne, dass die Menschen etwas gut verstehen. Imponiert haben mir die Menschen mit Migrationshintergrund, die mit eiserner Disziplin Deutsch gelernt und schließlich einen Beruf ergriffen haben. Deutsch ist eine äußerst schwierige Sprache. Und es gibt Menschen, die noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Am ehemaligen DAA-Standort Duisburg-Kupferhütte gab es im Treppenaufgang Gebäude A einen schönen Spruch an der Wand, der Lernen sehr treffend beschreibt: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom: Wenn man aufhört, treibt man zurück.“ Das mache ich mir auch selbst immer wieder bewusst.

Frage: Was ist Ihr Selbstverständnis im Umgang mit Menschen?

Günther Holtmeyer: Alles basiert auf Respekt. Die Menschen müssen sich ernst genommen fühlen. Und Empathie ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Ich versuche immer, mich in die jeweiligen Menschen hineinzuversetzen, gerade dann, wenn ehrgeizige Kursteilnehmer *innen ohne Vorwissen aus ganz anderen Welten kommen und riskieren, den Mut zu verlieren.

Frage: Können Sie kurz und knapp beschreiben, wie es ist, 80 Jahre fundamentale Entwicklung mitzuerleben? Was sind für Sie prägendsten Erinnerungen?

Günther Holtmeyer: Besonders eindrücklich war für mich der radikale gesellschaftliche Aufbruch der 68er-Bewegung. Als Student war ich weder links noch rechts. Das hat mir in meiner Arbeit in der studentischen Selbstverwaltung sehr geholfen. Später, während meiner Berufszeit, war ich Mitglied bei Terre des Hommes, weil diese NGO (Anm.: Nichtregierungsorganisation) sich um Kinder in der 3. Welt gekümmert hat. Terre des Hommes war damals sehr linksorientiert. Trotzdem hat man mich mit meiner Industrietätigkeit respektiert, weil ich immer offen war für eine andere Sicht der Dinge. Wir haben Jahre lang endlos über Sozialismus und Kommunismus diskutiert. Und mein Arbeitgeber war auch einverstanden, dass ich mich dort engagiere. Dem Unternehmen war nur wichtig, dass ich meine Arbeit mit Engagement erledige und das Berufliche vom Privaten trenne. Und ein weiteres prägendes Ereignis ist aus meiner Sicht die rasante Entwicklung der Computertechnologie, die bis heute in einem früher unvorstellbaren Maße bahnbrechend wirkt  

Frage: Was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten? Welche Leidenschaften haben Sie?

Günther Holtmeyer: Ich bin klassisch erzogen worden, habe Cello, Klavier und Orgel gespielt, musste es aber wegen meiner Schulter aufgeben. Und mich interessieren Sprachen und andere Kulturen. Ich lese viel und reise gern, und gerade die türkische Sprache hat mich mit ihrer außergewöhnlichen Logik und nahezu mathematischen Knappheit sehr früh fasziniert. Schon 1991, nach der ersten meiner fünfzehn Türkei-Reisen habe ich mir ein türkisches Lehrbuch gekauft. Was fremde Kulturen angeht, habe ich auch ein ganz besonderes Erlebnis in China gehabt: 2007 habe ich mit meiner Ehefrau in China eine Radtour gemacht.

Frage: Wie sah diese Abenteuerreise aus?

Günther Holtmeyer:  Nach Ankunft in Beijing gab es zunächst ein mehrtägiges Besichtigungsprogramm, unter anderem mit dem Tiananmen-Platz, der verbotenen Stadt oder dem Sommerpalast sowie einem Ausflug an die chinesische Mauer. Mit dem Zug ging es nach Xi-An im Westen, in alten Zeiten der östliche Beginn der Seidenstraße. Eine beeindruckende Stadt mit komplett erhaltener breiter Stadtmauer, auf der wir das Radfahren trainiert haben. Ein Highlight der Stadtbesichtigung war das Museum der Terracotta-Krieger.  Von Xi-An ging es dann nach Guilin im Süden, in die fantastische Landschaft am Li-Fluss mit den typischen Karst-Hügeln. Von dort aus machten wir eine mehrtägige Radfahrt am Li-Fluss entlang, mit Übernachtungen in kleinen, abgelegenen Dörfern sowie Erkundungsfahrten durch Gemüse-, Wein- und Reisfelder. Ziel war Yangshuo, von wo aus es per Rad weiter entlang des Yu Long – Flusses ging. Aus dieser Idylle ging es in eine ganz andere Welt, per Flug zunächst in die Riesenmetropole Schanghai mit dieser unglaublichen Skyline und nach Suzhou, dem so genannten Venedig des Ostens, einem Touristenmagneten. Auf ihre Weise besonders eindrucksvoll war die Fahrt zwischen Schanghai und Suzhou in einem superschnellen, von den Chinesen selbst entwickelten ICE. Zurück in Schanghai fuhren wir auf der weltweit einzigen Transrapid-Strecke zum Flughafen, von wo aus es dann in unsere kleine Welt nach Frankfurt zurückging. Das waren zwei vollgepackte Wochen, einige hundert Kilometer Radfahrt und unzählige Begegnungen mit interessanten Menschen.

Frage: Sie strahlen große Ruhe, Ausgeglichenheit und Geduld aus. Sind Sie jemals richtig wütend gewesen und aus der Haut gefahren?

Günther Holtmeyer: Es dauert sehr lange, bis bei mir eine Grenze erreicht ist. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals aus der Haut gefahren bin. Ich bin geprägt von Begegnungen mit vielen verschiedenen Menschen und Denkweisen. Ich hatte - wie gesagt - große Unterschiede der Weltanschauung in meiner eigenen Familie. Und Ich hatte beruflich mein Leben lang mit Vorständen zu kommunizieren, bei denen man sich, bildlich gesprochen, auf Katzenpfoten bewegen musste oder – anders ausgedrückt – wo die Luft immer sehr dünn war. Mein großes Vorbild war mein Vater, der die große Gabe hatte, immer Empathie zu praktizieren und vermitteln zu können.